Offenbar_offensichtlich

Offenbar ist der Unterschied nicht offensichtlich

Warum hier anscheinend Verwirrung besteht. Und nicht scheinbar.

So. Spätestens nach diesem Einstieg ist das Chaos komplett. Anscheinend, scheinbar, offenbar, offensichtlich – vier Adverbien, die jedes Sprachgefühl auf die Probe stellen. Und im Alltagsgebrauch nicht selten den Sinn ganzer Aussagen verzerren.

Alles der Reihe nach?

Beginnen wir mit der verbreitetsten Lesart. Die meisten teilen die vier Worte in eine Wahrscheinlichkeitsskala ein: Anscheinend und scheinbar sind demnach Synonyme für Vermutetes. Offensichtlich ist etwas erst, wenn es klar zu sehen oder abschliessend bewiesen ist. Offenbar steht irrgendwo in der Mitte. Ein Beispiel:

Ihr Freund Daniel bringt aus dem Thailand-Urlaub ein Paar Sneakers als Geschenk mit. Sehen diese so aus wie im Titelbild, handelt es sich offensichtlich um eine Fälschung. Sind keine so klaren Makel zu erkennen, der Schuh wirkt aber äusserst billig, ist es offenbar eine Fälschung. Ist eigentlich alles okay, Sie sind aber immer noch skeptisch, sind sie anscheinend/scheinbar echt. Im Zweifel für den Angeklagten. Soweit die übliche Verwendung.

Anscheinend ist das falsch

Lösen wir auf.

Anscheinend und scheinbar bedeuten nicht das Gleiche. Sie sagen zwar beide aus, dass eine Sache nicht ganz sicher ist. Einen Bedeutungsunterschied gibt es trotzdem: Anscheinend zeigt an, dass wir etwas als richtig einstufen. Ist der Schuh also anscheinend echt, glauben wir tatsächlich daran. Ist er aber nur scheinbar echt, denken wir immer noch, dass es sich um eine Fälschung handelt. Der Schein trügt, sozusagen.

Umgekehrt ist es bei offenbar und offensichtlich. Oder, wenn man es traditionell mag, auch bei offenkundig. Es sind tatsächlich Synonyme, es gibt also keinen Unterschied. Der Schuh im Titelbild ist offenbar eine Fälschung. Und offensichtlich. Und offenkundig.

Auch offenbar sollten Sie also nur verwenden, wenn etwas absolut sicher ist. Taucht der gute Daniel beim nächsten Treffen auch noch mit einer neuen Rolex auf, handelt es sich dabei nicht offenbar, sondern nur anscheinend um eine Fälschung. So lange, bis Sie es bewiesen haben.

Fragen Sie doch bei Supertext nach, bevor Sie hier das nächste Mal stolpern. Die kennen sich offenbar damit aus.

Titelbild via Flickr: fake – Violet Wave (CC BY-ND 2.0)



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5 Kommentare zu “Offenbar ist der Unterschied nicht offensichtlich”



  • Jean am 25. Mai 2020 9:55 Uhr

    Interessanter Artikel, sehr lesenswert. Im Duden wird das Wort „offenbar“ jedoch anders definiert.


  • Günter am 24. November 2020 14:29 Uhr

    Tatsächlich ein vorzüglicher, sehr genau erklärender Artikel. Zum Vorkommentar (25.05.2020): Dass der Duden mittlerweile Definitionen anbietet, die vor Jahren noch als falsch oder zumindest als „ungenau“ oder „umgangssprachlich“ gekennzeichnet worden wären, ist mir auch aufgefallen; es kommt anscheinend immer öfters vor. Das ist schade und gehört in die Schublade „Sprachschlamperei“. Bei der virusähnlichen Verbreitung dieser Schlamperei stecken sich leider Politiker und Behörden mit ihrem „Neusprech“ und Medien immer wieder gegenseitig an. Der Kampf gegen dieses Virus ist (hoffentlich nicht „anscheinend“, sondern nur „scheinbar“) aussichtslos.


  • Gandolfo am 9. Juni 2022 15:11 Uhr

    An den Verfasser des Vorkommentars: „Sprachschlamperei“ anprangern und dann „öfters“ schreiben.


  • Werner Ferdinand am 9. Januar 2023 17:08 Uhr

    Die Aussage oben „Anscheinend zeigt an, dass wir etwas als richtig einstufen.“ is m.E. falsch. Wenn ich sage „anscheinend“, dass meine ich „es hat den Anschein also ob…“ bin also nicht sicher.

    Gut beschrieben wird es hier:
    https://ids-pub.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/7084/file/Strecker_Anscheinend_falsch_2017.pdf
    »Anscheinend« drückt die Vermutung aus, dass etwas so ist, wie es zu sein scheint: An
    scheinend ist der Kollege krank, anscheinend hat keiner zugehört, anscheinend hat der
    Chef mal wieder schlechte Laune.
    »Scheinbar« hingegen sagt, dass etwas nur dem äußeren Eindruck nach, nicht aber tatsäch
    lich so ist: Scheinbar interessierte er sich mehr für die Nachrichten (in Wahrheit wollte er
    bloß seine Ruhe haben); scheinbar war der Riese kleiner als der Zwerg (weil der Zwerg ganz
    weit vorne stand und der Riese ganz weit hinten); scheinbar endlos zieht sich die Wüste.
    Statt »Das ist ihm scheinbar egal« oder »Scheinbar hat es keiner gewusst« muss es heißen:
    »Das ist ihm anscheinend egal« und »Anscheinend hat es keiner gewusst«. Andernfalls
    würde es bedeuten, die Gleichgültigkeit und die Unwissenheit wären nur vorgetäuscht.


  • Bernd am 3. Februar 2023 12:19 Uhr

    @Werner Ferdinand
    Anscheinend haben sie die Sätze davor nicht gelesen.
    „Anscheinend und scheinbar bedeuten nicht das Gleiche. Sie sagen zwar beide aus, dass eine Sache nicht ganz sicher ist. Einen Bedeutungsunterschied gibt es trotzdem: Anscheinend zeigt an, dass wir etwas als richtig einstufen.“

    Also in einem Satz zusammengefasst:
    »Anscheinend« bedeutet, daß eine Sache nicht ganz sicher ist, aber daß wir sie als richtig einstufen.

    Ihr Satz:
    „»Anscheinend« drückt die Vermutung aus, dass etwas so ist, wie es zu sein scheint.“

    Das ist toch gleichwertig. Etwas ist vermutlich so, wie es scheint, aber eben nicht ganz sicher. Würden wir die Vermutung haben, daß es nicht so ist, oder zweifeln wir daran, wollen aber nicht ausdrüchen, daß es definitiv nicht so ist, dann ist »Offenbar« das richtige Wort.

    P.S. Danke für den Artikel
    Ich habe offensichtlich »scheinbar« und »offenbar« gleichgesetzt … ich nehme an aufgrund des Suffix »bar«; daß bei mir scheinbar Zweifel auslöst. Vielleicht kommt das auch daher daß eine biblische »Offenbarung« offensichtlich die Realität wiederspiegeln soll, mir aber nie so offensichtlich geworden ist wie die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Methode.


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