Gendern oder nicht? Warum die Frage falsch gestellt ist.

Dieser Artikel erschien im Mai 2022 in der 20. Ausgabe von The Reporting Times (PDF)

Wie halten wir’s mit geschlechtergerechter Sprache? Kaum ein Unternehmen gerät bei dem Thema nicht ins Grübeln. Wieso es um mehr als die Entscheidung für oder gegen Sterne im Text geht und wie Unternehmen ihre persönlichen Antworten finden.

Wenn ich mir die Geschäftsberichte der grössten börsenkotierten Schweizer Unternehmen anschaue, stelle ich fest: Von 30 Berichten auf Deutsch wird «nur» in zweien konsequent gegendert. Etwa die Hälfte spricht zwar im Vorwort die «Aktionärinnen und Aktionäre» an, aber nur 7 % setzen durchgehend auf männliche und weibliche Bezeichnungen oder eine andere gegenderte Form. Die meisten könnten also noch was ändern. Die Frage ist: Wer soll und wieso?

Sprachlich bekam die Genderdebatte 2021 neuen Zündstoff: Seither gilt laut Duden das generische Maskulinum bei Personenbezeichnungen offiziell als nicht eindeutig. Wer vom «Leser» spricht, legt nicht offen, ob es sich um Frau oder Mann handelt. Deshalb hat das Online-Wörterbuch 12’000 Berufs- und Personenbezeichnungen gegendert und «den Leser» neu definiert als «eine männliche Person, die etwas liest».

Sich in Texten von der rein männlichen Form zu verabschieden hat also grundsätzlich Sinn, wenn sich unter den bezeichneten Personen auch weibliche befinden. Denn mitgemeint ist dann zwar gutgemeint, aber (nun auch offiziell) nicht mehr genug.

Alle ansprechen. Aber nicht nur in Texten.

Im Reporting sorgt die wachsende Bedeutung von ESG für Themenbrisanz. Gesellschaftliches Engagement, Förderung von Vielfalt und Inklusion heisst es auf sozialer Seite für Unternehmen – und auf sprachlicher? Meine Meinung ist klar: In erster Linie zählen hier die Praktiken. In zweiter wie man darüber spricht. Inklusion in der Sprache ist also wichtig, aber nur glaubwürdig, wenn man sie auch sonst lebt.

Zudem ist Diversity in Publikationen nicht nur eine Frage der Formulierung, sondern ebenso der Themensetzung oder der Bildwelt. Und was nützt es, gendergerecht zu schreiben, wenn die Realität in Ihrem Unternehmen eine deutlich andere Sprache spricht und Sie für das Fotoshooting Statistinnen engagieren müssen?

«Gendergerechte Sprache soll ein Spiegel der Realität sein, nicht eine Verschönerung.»

Halten Sie sich Ihre Stakeholder vor Augen: Mit den richtigen Worten beeinflussen Sie, wie diese Sie wahrnehmen. Aber Vertrauen bauen Sie auf, wenn auf diese Worte auch Taten folgen. Oder noch besser umgekehrt. Das Gendern zum Bestandteil Ihrer Corporate Language zu machen, lohnt sich also dann, wenn es Ihre Unternehmensidentität glaubhaft unterstreicht.

Ist die Frage nach dem «Ob» geklärt, bleibt noch die nach dem «Wie». Genderformen gibt es viele, richtig oder falsch ist keine und die Verwirrung darum oft gross. Maximale Inklusion schaffen Genderstern und Doppelpunkt. Sie beziehen Personen mit ein, die sich ausserhalb des binären Spektrums Mann-Frau definieren. Sonderzeichen in Texte zu integrieren, kann jedoch bei Grammatik, Lesefluss oder der Suchmaschinenoptimierung Probleme machen. Einfacher funktioniert es mit der Doppelnennung wie in «Aktionärinnen und Aktionäre». Ebenso sind substantivierte Partizipien («Mitarbeitende») oder geschlechtsneutrale Ausdrücke («Fachpersonen») gut umsetzbar.

Die Frage lautet also nicht, ob gendern oder nicht gendern. Sondern wie Sie sich als Unternehmen positionieren. Fragen Sie darum eher: Welche Werte sind uns wichtig? Und wie halten wir’s bei diesen mit der Glaubwürdigkeit?

Titelbild via Unsplash


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Ein Kommentar zu “Gendern oder nicht? Warum die Frage falsch gestellt ist.”



  • Cas am 22. Juni 2022 12:52 Uhr

    So sehr ich gendergerechte Sprache befürworte: Die bisher gefundenen Lösungsansätze sind in meinen Augen allesamt ungeeignet. Sternchen und andere Sonderzeichen stören den Lesefluss, sind technisch oft nicht umsetzbar und lassen sich nicht konsequent durch einen Text ziehen, der dabei auch nicht gleich einem Schlachtfeld gleichen soll. Und sie werfen mitunter Fragen auf wie in Ihrer Überschrift vom 19. Januar: „Ausschreibung für Übersetzungen: Diese Fragen helfen Ihnen beim Evaluieren von Anbieter*innen“. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, „Anbieter“ zu gendern, vermutete ich hinter diesem Begriff doch „anbietende Unternehmen“. „Anbieter*innen“ sind einzelne Personen; war das wirklich gemeint? Dann hätte ich der Klar- und Einfachheit halber von „Angeboten“ gesprochen – Genderfrage elegant umgangen!

    Die Doppelnennungen sind ebenfalls oft unerträglich: Kürzlich berichtete die „Tagesschau“ von einer Demo, an der klassischerweise zwei Gruppierungen aufeinandertrafen: Demonstranten und Polizisten. Doch die Tagesschau nannte explizit „Demonstrantinnen und Demonstranten gegen Polizistinnen und Polizisten.“ Plötzlich waren es also vier Gruppen, intersexuelle Menschen natürlich ausgeschlossen. Das Gendern ist tatsächlich der Grund, warum ich Nachrichten im SRF nicht mehr konsumiere!

    Und ein Student ist kein Studierender, insbesondere wenn er sich am Wochenende die Birne zudröhnt. Substantivierte Partizipien, die zudem nur im Plural funktionieren, sind sinnentstellend und ebensowenig zielführend.

    Meine lieben Freunde aller Geschlechter: Sprache muss die Realität wiedergeben und darf sie nicht entstellen!

    Es gibt nur zwei Lösungsansätze: Artikel und Endungen für neue Geschlechter neu erfinden (z. B.: der Student (m., pl. -en), die Studentin (w., pl. -nen), das Studente (neutral, pl. -n), dot Studenti (divers, pl. -s)), oder aber sich aufs generische Maskulinum zurückbesinnen und das Adjektiv „männlich“, „weiblich“, „divers“ voranstellen, wie Alicia Joe auf Youtube unter dem Titel „Warum Gendersprache scheitern wird“ eindrücklich suggeriert. Seit ich dieses Video gesehen habe, verzichte ich konsequent aufs Gendern und fühle mich beim Schreiben endlich wieder frei!


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