Du vs. Sie – so geht die Höflichkeitsform in anderen Ländern

Formelle und informelle Anrede – fast in jeder Sprache gibt es sie. Die einzelnen Formen zu kennen ist der erste Schritt. Und die Regeln und Gepflogenheiten drumherum richtig anzuwenden der entscheidende. Aber keine Sorge: Mit unserem kleinen Knigge-Kurs meistern Sie das «Sie-Du-Dilemma» auch auf internationalem Parkett.

Wärs doch nur überall so einfach wie im Englischen. Das allseits bekannte «you» passt immer. Und bringt Deutschübersetzer*innen gerade bei Filmszenen schnell in Bedrängnis: Wann ist die Zeit reif, um vom Sie aufs Du überzugehen? Mulder und Scully von Akte X brauchen zum Beispiel geschlagene 9 Staffeln dafür. Daran haben auch intime Bekenntnisse in der 7. Staffel nichts geändert. Und Sherlock Holmes und Watson siezen sich auf Deutsch selbst noch, nachdem sie einander mehrfach den Kopf gerettet und unter einem Dach gewohnt haben. Letzteres mag zwar eher an der allgemeinen britischen Höflichkeit liegen, die man damit transportieren wollte.

Eine komplexe Sache ist der Höflichkeitstanz aber längst nicht nur in der deutschen Sprache. Würden zum Beispiel Japan oder China dem englischen Beispiel folgen wollen, müssten die beiden Länder dafür ihre ganze Kultur über Bord werfen. Doch eins nach dem anderen.

Englisch: simple and effective

«How are you?» Diese Frage kann man jedem Menschen stellen – der Mutter, dem Freund, der Lehrerin, dem Busfahrer, der Rechtsanwältin oder dem Premierminister. Alle sitzen im selben Anrede-Boot und können sich einer einheitlichen Form bedienen. Das Anredepronomen ist im Gespräch aber nicht alles. Je nach Gegenüber kommen trotzdem Abstufungen der Höflichkeit ins Spiel. Dann werden Menschen mit «Mr/Ms/Mrs/Mx» und dem Familiennamen angesprochen und die Formulierung einzelner Sätze wird formeller und zuvorkommender, was sich vor allem an der Satzstellung zeigt. Zwei typische Höflichkeitsphrasen aus dem Britischen sind «Would you be so kind…» (Wären Sie so freundlich…) oder «Could you do me a favor?» (Könnten Sie mir einen Gefallen tun?). Es gibt also sehr wohl Finessen, die im Geschäftsleben je nach Branche auch gefragt sind. Sie sind aber einfach in der Handhabung.

Förmlich, förmlicher, Französisch

Man stelle sich eine Welt vor, in der Schwiegermutter und -vater auch nach zehn Jahren noch gesiezt werden. In Frankreich ist das förmliche «vous» auch innerhalb der Familie gang und gäbe – wie generell die formellen Umgangsformen. Oft wird das Sie in Kombination mit dem Vornamen verwendet, was aber noch lange keine Freikarte für das französische Du, «tu», ist. Auch dann nicht, wenn die ältere Geschäftsfrau oder der ältere Geschäftsmann einen duzt. Im Gegenteil. In der französischen Sprache hängt die Anrede mit dem Alter und den Generationen zusammen. Das Durcheinander ist damit quasi vorprogrammiert. Fürs Business und die Ansprache in Werbeappellen gibt es darum einen einfachen Merksatz: Mit vous gewinnen Sie im Nu.

Spanisch: her mit dem «Du»

Die Spanier*innen gehen die Sache mit der Anrede entspannter an. Hier wird geduzt, wo es nur geht: «tú» im Restaurant, im Büro, bei Ämtern oder in der Bank. «Usted», das spanische Sie, findet zwar noch Anwendung, aber die Norm ist diese Anrede nicht. Berührungsängste sind oft fehl am Platz, denn manchen ist das «tù» eher noch nicht persönlich genug. Da muss auch mal ein «cariño» (Liebling) her, ob man sich gut kennt oder nicht. Achtung: Was für Spanien gilt, trifft in Lateinamerika nicht zu. Hier dominiert der «Voseo», bei dem die Höflichkeitsform mit «vos», der zweiten Person Plural, gebildet wird. Das «tù» ist hier eher unüblich.

Schwedisch: Sonderstellung für die Königsfamilie

Ähnlich gelassen geht Schweden mit dem Thema um – zumindest seit Ende der 60er. Davor war es mit der Anrede etwas komplizierter. Das Du, das auch auf Schwedisch «Du» (Aussprache: Dü) heisst, wurde damals nur Kindern, dem Ehepartner oder sehr engen Freunden gegenüber angewendet. Für alle anderen musste der volle Titel her. Ein*e Angestellte*r hätte also damals gefragt «Wie geht es Manager Norling heute?», selbst wenn er oder sie den Chef direkt ansprach.

Die Du-Reform kam dann mit Bror Rexed, dem damaligen schwedischen Direktor der Gesundheits- und Sozialbehörde. «Kalla mig Bror!» («Ihr dürft mich Bror nennen!») verkündete er 1967 bei seinem Amtsantritt. Die Form verbreitete sich rasend schnell in der schwedischen Gesellschaft – und macht nur vor einem Bereich bis heute Halt: Die Königsfamilie muss weiterhin mit vollem Titel angesprochen werden. Kann man sich merken.

Italienisch: Kaiser und Inquisitoren als Höflichkeitsboten

Noch zu Zeiten des alten Roms sprach man alle mit Du an – sogar Julius Caesar höchstpersönlich. Das war dann den römischen Kaisern nach ihm doch zuviel des Guten: Sie durfte man nur mit «Voi» anreden, dem Höflichkeitspronomen in der zweiten Person Plural. Erst die spanische Inquisition brachte um das 15. Jahrhundert das «Lei», das heute für den Singular gebraucht wird. «Voi» taucht höchstens noch regional ab und zu auf, zum Beispiel in Neapel. «Lei» kombiniert man in formellen Situationen mit dem Nachnamen und den Anredeformen «signore/signora». Bei informelleren Inhalten wie Websites, Werbetexten und Co. hat sich bei den Italiener*innen hingegen das «tu» durchgesetzt.

Russisch: Wie heisst eigentlich Ihr Vater?

Im Russischen ist die Anrede per Sie in Verbindung mit dem Vornamen weit verbreitet, was noch kein willkommenes Duzen bedeutet. Die Distanz zwischen Du und Sie gleicht der in der deutschen Sprache. Und doch erfolgt der Übergang vom russischen Sie, «Вы» (Aussprache: Wy), zum russischen Du, «Ты» (Aussprache: Ty), spontan, wenn die Atmosphäre etwas «wärmer» wird. Eine in Russland verbreitete zungenbrecherische Besonderheit ist die Anrede mit Vor- und Vatersnamen. Wer sich also geschäftliche Pluspunkte holen will, muss nur etwas Stammbaumrecherche betreiben. Aber Vorsicht: Die Punkte sind schnell wieder verloren, wenn man zu viel lächelt. Das unverbindliche Lächeln unter fremden Geschäftsleuten ist verpönt. Das behalten wir uns schön für Japan auf.

Japanisch: Keigo, Uchi-Soto und überhaupt

In Japan hingegen ist das Lächeln eine zwingend einzuhaltende Höflichkeitsregel für den Umgang mit anderen, unabhängig von der tatsächlichen Gefühlslage. Und um einiges einfacher zu bewältigen als die Wahl der richtigen Anrede: Ein komplexes Höflichkeitssystem mit verschiedenen Ebenen und fliessenden Übergängen macht das Ganze für Nicht-Japaner*innen zu einer schwierigen Aufgabe. Über allem steht «Keigo», was übersetzt «respektvolle Sprache» bedeutet.

Bei der japanischen Anrede geht es darum, dem Gegenüber Respekt zu zeigen und selbst bescheiden zu bleiben. Die zweite Stufe wird als «Uchi-Soto» bezeichnet. Die Bescheidenheit bezieht sich dabei auf das komplette eigene Umfeld (Familie, Abteilung in der Firma oder die gesamte Firma gegenüber der Kundschaft). Innerhalb dieses Uchi-Kreises kommen die Hierarchie (berufliche Stellung, Alter etc.) sowie die Generationen der Familie ins Spiel. Dem Höherstehenden gegenüber ist immer Respekt zu zeigen. Jede Ebene hat ihre Synonyme, eigenen Floskeln und Personalpronomen, die sogar individuellen Regeln und Konjugationen folgen. Noch Fragen?

Chinesisch: Sozialstatus irrelevant

Im «Land der Höflichkeit und Güte» wird es nicht viel einfacher mit der Anrede. Denn auch hier gibt es Tausende von Höflichkeitsformen und Ritualen – und darum regelmässig Missverständnisse interkultureller Art. In China geniessen ältere Menschen ein sehr hohes Ansehen. Aus dem Grund gilt für sie auch immer die Höflichkeitsform «nín» (您). Der Sozialstatus oder die Beziehung zwischen den Menschen haben keinen Einfluss auf die Wahl der Anrede. Es kommt mehr auf den Moment an. Um Dankbarkeit und Respekt zu zeigen, gibt es z. B. Situationen, in denen sogar Familienmitglieder nicht mit «nĭ» (你) geduzt, sondern tatsächlich gesiezt werden.

In China wird jedes Wort, jeder Satz, jede Mimik einer Absicht zugeordnet. Klingt kompliziert? Ist es auch. Darum begibt man sich zum Beispiel in der Werbung gar nicht erst aufs Glatteis, sondern spricht das Individuum einfach nicht direkt an. Das gilt übrigens auch für Japan. Stattdessen setzt man in beiden Ländern auf indirekte Apelle ans Kollektiv à la «In unserem Shop finden Menschen alles, was sie brauchen».

 

Alles klar? Sonst helfen wir Ihnen gerne durch den Höflichkeitsdschungel. Egal in welcher Sprache. Und wenn Sie wollen auch gerne per Du.

Titelbild via Supertext



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2 Kommentare zu “Du vs. Sie – so geht die Höflichkeitsform in anderen Ländern”



  • Günther Hintze am 12. Januar 2023 14:15 Uhr

    Danke für diesen Artikel. Ich wusste dass es in vielen anderen Ländern ist die höfliche Form von „du“ eigentlich „ihr zwei“, aber das mit dem Spanischen wusste ich nicht. Zum Beispiel sind „usted“ und „ustedes“ die höflichen Formen von „du“, während im Italienischen „tu“ (die informelle Form von „du“) und „voi“ (die höfliche Form von „du“) verwendet werden. Nach diesem Beitrag bin ich bereit, wenn ich in ein Land reise, das richtige Wort zu benutzen :)


  • Tim Wöffen am 15. Dezember 2023 15:33 Uhr

    Herzlichen Dank für diesen sehr interessanten Artikel! Besonders interessant finde ich, wie es einigen Ländern gelungen ist, eine einheitliche Form zu entwickeln wie England oder Schweden. Ist Ihnen bekannt, ob es auch in Deutschland solche Bestrebungen in der Vergangenheit gegeben hat oder aktuell gibt? Denn auch wenn mit einer einheitlichen Form eine Nuance des Ausdrucks verloren ginge, erscheint es mir vorteilhaft und insgesamt vorzugswürdig, wenn es auch im Deutschen nur eine Form gäbe (also entweder „Sie“ oder „Du“ für alle). Denn dies scheint doch wesentlich einfacher und effizienter. Es spart (aggregiert) sicherlich Zeit, die mit Überlegungen diesbezüglich angestellt wird. Und die Sprache wird zugleich besser zugänglich für alle Nicht-Muttersprachler.


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